In Kanada sagt man zum Herbst Indianersommer. Wenn die heiße Sommerzeit mit ihrer Mückenplage vorüber ist, schmücken sich im September die Wälder mit allen Farben der Palette. In tiefem Rot über alle Arten von Braun bis zum grellen Gelb leuchten dann die Laubbäume, Büsche und Gräser. Doch des Nachts sinken die Temperaturen schon etliche Grade unter Null. Auch während der Tageszeit kann schon leichter Frost herrschen.

In dem in einer Waldlichtung gelegenen Holzfällerlager, von dem ich schon in meiner ersten Geschichte erzählte, herrschte reges Leben. Die Zeit des Holzeinschlages, die bis zum zeitigen Frühjahr dauerte, war angebrochen. Bald schallten der Lärm der Motorsägen und das Krachen der fallenden Bäume durch die Stille des kanadischen Waldes. Die Männer, die der harten Arbeit des Holzfällens nachgingen, hatten kaum ein Auge für die Naturschönheiten ringsumher.

Als der erste Schnee fiel, hatte ich mich längst an das harte Leben hier gewöhnt. War die Tagesnorm geschafft und eine kräftige Mahlzeit eingenommen, wurde noch eine Weile erzählt oder Karten gespielt. Doch dann suchte jeder seine Schlafkoje auf.

Ich musste schon einige Stunden geschlafen haben, als ich im Unterbewusstsein ein Heulen Zu hören glaubte, das dem eines

Wolfes ähnlich war. Doch ich war zu müde, so dass ich wie- der fest einschlief. Zur Mittagszeit traf ich Long Nose, unseren Lagerverwalter. Er kam auf mich zu und fragte mich aufgeregt, ob ich in der vergangene Nacht das Heulen eines Wolfes vernommen hätte. Ich bejahte die Frage. Die Erregung des Mannes war mir unverständlich, bis er mir erklärte, dass sich in dieser Gegend noch nie ein Wolf sehen ließ. Er bewohnte diese Gegend schon seit vielen Jahren, aber Wölfe waren ihm noch nicht zu Gesicht gekommen. Das fand ich recht seltsam, denn andere für Kanada typische Tierarten wie

Karibus, Baumstacheltiere, Waschbären, Erdhörnchen hielten sich hier noch auf. Auch Wölfe waren zur damaligen Zeit in Kanada nichts Außergewöhnliches; wer weiß, welchen Grund sie hatten, dieses Gebiet zu meiden. Da jetzt meine Neugier geweckt worden war, versprach ich dem Lagerverwalter, in den nächsten Nächten besser acht zu geben.

Die Sonntage verbrachte ich meistens in der Blockhütte meines Indianerfreundes und seiner Frau; dabei wurde es immer reichlich spät. In dieser Jahreszeit war es ein wunderbares Erlebnis, der Fütterung von wenigstens zwei putzend Wapitihirschen beizuwohnen, die mein alter Freund jeden Winter durchführte.

Ich hatte mich also so gegen Mitternacht verabschiedet und machte mich auf den Heimweg zum Lager, als plötzlich aus nicht sehr großer Entfernung das Heulen eines Wolfes zu hören war. Ich blieb stehen und rührte mich nicht vom Fleck. Das Geheul konnte nur von einem einzelnen Tier stammen. Es entfernte sich und kam doch wieder näher heran. Da Wölfe ja Rudeltiere sind, war es recht seltsam, dass nur ein

einzelnes Stück sich hier aufhielt. Langsam und vorsichtig ging ich dem Wolf entgegen. Bis jetzt konnte ich seine Spur im Schnee nicht ausmachen, obgleich der Mond die Umgebung fast taghell erleuchtete. Ich wollte gerade die Suche nach dem Tier aufgeben und den Rückzug antreten, da sah ich nur fünfzehn Schritte vor mir im hellen Mondlicht einen prächtigen Grauwolf stehen. Was sollte ich jetzt unternehmen? Ich entschloss mich, auf ihn zuzugehen, da das Tier seltsamerweise nicht flüchtig wurde, was sonst jeder andere Wolf getan hätte. Ich hielt ihm meine vorgestreckte Hand entgegen, und er ließ mich bis auf fast fünf Schritte an sich herankommen. Erst dann ging er langsam zurück. Als ich ruhig auf ihn einsprach, spitzte er seine Ohren, die menschlichen Laute schienen ihm bekannt Zu sein. Ich redete weiterhin auf ihn ein, entfernte mich dabei aber langsam und später etwas schneller in Richtung auf unser Lager. Es war kaum zu glauben, aber der Wolf folgte mir in einem gewissen Abstand, ohne mich dabei aus den Augen Zu lassen. Schon lichtete sich der Wald etwas, und die Umrisse der Blockhütten des Lagers waren bereits Zu erkennen. Plötzlich blieb das Tier stehen, heulte leise vor sich hin und legte sich in den Schnee. Ihn weiterzulocken, gelang mir in jener Nacht nicht mehr. Viel geschlafen habe ich in dieser Nacht nicht. Wie kam es, dass dieser Wolf kaum Scheu vor den Menschen besaß ?

Am nächsten Morgen war an Bäumefällen im Walde nicht zu denken, da ein heftiger Schneesturm tobte. Mir ließ der Grauwolf aber keine Ruhe, und ich musste versuchen, ihn wieder zu finden. Nachdem ich mir ein Stück Wildfleisch im Küchenmagazin hatte geben lassen, suchte ich die Stelle auf, wo

ich den Wolf verlassen hatte. Es war ziemlich schwierig, wegen der Schneeverwehungen den Platz wiederzufinden. Aber ich brauchte gar nicht zu suchen. Ungefähr dort, wo ich den Grauwolf verlassen hatte, trat er aus dem Gebüsch heraus. Er schüttelte sich den Schnee aus dem Pelz und kam mir ohne Scheu entgegen. Ich hielt ihm das Fleisch hin, und langsam kam er näher und näher. Dann sprang er plötzlich auf mich zu und riss mir den Fleischbrocken aus der Hand. Zuerst war ich natürlich erschrocken, doch bald überkam mich ein großes Glücksgefühl. Es war mir in freier Wildbahn gelungen, einen ausgewachsenen Wolf aus der Hand zu füttern. In kurzer Zeit hatte er seine Mahlzeit beendet und folgte mir zum Lager. Ich unterrichtete meine Arbeitskollegen, und sie ver- sprachen mir, das Tier nicht zu verjagen oder zu verärgern. So hielt sich der Grauwolf, wie ich ihn genannt hatte, während der ganzen Winterzeit in der Nähe unseres Camps auf. In das Innere des Lagers oder in ein Haus ließ er sich jedoch niemals locken. Den eigentlichen Grund für seine Anhänglichkeit habe ich nie in Erfahrung bringen können. Vielleicht ist er als Welpe von Menschen aufgezogen worden? Durch irgendwelche Umstände musste er seine Pfleger verloren haben und war so Zu einem Einzelgänger geworden.

Wir hatten uns alle an ihn gewöhnt. Er bedeutete für uns eine Abwechslung in der Einsamkeit.

Der lange kanadische Winter ging seinem Ende entgegen, und die ersten Anzeichen des nahenden Frühlings machten sich bemerkbar. Der Ruf der Kanadagänse erscholl wieder auf dem Bergsee. Nun hieß es, bald Abschied Zu nehmen und die schönen kanadischen Wälder zu verlassen. Mein indianischer Freund hatte mir versprochen, sich um den Grauwolf zu kümmern, denn es bestand ja die Möglichkeit, dass das Tier sich hier noch längere Zeit aufhalten würde.

Einen Tag vor meiner Abreise machte ich wie üblich die Fleischration für den Wolf fertig und wollte ihn noch einmal füttern. Als ich den Futterplatz erreichte, ließ sich der Grauwolf nicht sehen. Das war in der ganzen Zeit seines Aufenthaltes noch nie vorgekommen. Ich wartete lange auf ihn, aber er kam nicht. Auch am nächsten Tag war meine Suche nach dem Grauwolf umsonst. Wahrscheinlich hatte er, weil es Frühling werden wollte, Anschluss an ein Rudel gesucht.

Aus dem Buch "Begegnungen mit Tieren" von Alfred Ho

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