Es gibt eine alte Frau, die an einem verborgenen Ort lebt, den alle kennen, der aber nur wenigen Menschen zugänglich ist. Die Alte sieht wüst aus und wird oft als über und über behaart und ziemlich fettleibig beschrieben. Aber wer weiß; sie meidet meist die Gesellschaft der Menschen und entzieht sich ihren Blicken. Es heißt, dass sie in einer Berghöhle zwischen den Steilhängen des Tarahumara-Indianerreservats haust, andere behaupten, sie am Rande des Highway bei El Paso gesehen zuhaben, und wieder andere, sie sei in einem verbeulten Lastwagen mit zerschossenem Rückfenster in der Nähe von Oaxaca Richtung Süden gefahren.
Die Alte hat viele Namen: La Huesera, die Knochenfrau, La Trapera, die Fängerin, aber vor allem wird sie La Loba genannt, die Wolfsfrau.
Sie kriecht tief gebückt durch die Arroyos, die ausgetrockneten Flussbetten, und klettert über die Bergkämme, dabei sucht sie unter jedem Strauch und Stein nach Bärenknochen, Krähenleichen, Schlangenhäuten, aber ganz speziell sucht sie nach den Gebeinen toter Wölfe, denn den Wölfen gilt ihre tiefste Liebe. Und wenn sie ein vollständiges Skelett zusammengetragen hat, wenn auch der letzte Rückenwirbel sich am rechten Platz befindet und das Wolfsgerippe schön säuberlich geordnet vor ihr im harten Wüstensand liegt, dann lässt sie ihre faltigen Hände darüber schweben und singt.
Mit erhobcnen Armen steht sie über dem Wolfsgebein und lässt den Gesang ertönen, der ihr für diese Kreatur, ganz allein für diese eine, eingegeben wird. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis eine Spur von Fleisch über den Knochen sichtbar wird, bis eine Spur von Haut und Fell das Fleisch überzieht. La Loba singt, und die Kreatur unter ihr nimmt zusehends Gestalt an. Jetzt beginnt der Schwanz zu zucken, und nun wird er buschig und peitscht den Sand schon vor Ungeduld. La Loba singt weiter, inbrünstig weiter, bis der Wolf zu atmen beginnt. Lauter und tiefer wird ihr Gesang, so tief, dass die Bergwände zittern, und während sie noch so herrlich singt, öffnet der Wolf seine gelben Augen, springt auf und rast durch den Canyon davon.
Auf und davon. Nur wer Augen hat, die das Geschöpf bis zum fernen Horizont verfolgen können, sieht, dass er sich von einem Moment zum anderen wieder verwandelt und die Gestalt einer Frau annimmt -einer Frau, die sich laut auflachend schüttelt und hinter dem Horizont verschwindet-
Deshalb sagt man, dass du Glück haben kannst, wenn du allein in der Wüste herumläufst und dir ein wenig verloren vorkommst und womöglich schon todmüde bist, denn wer weiß? Vielleicht findet die alte Lobafrau Gefallen an dir und zeigt dir etwas vom Leben der Seele.
Indianische Sage aus dem Buch "Die Wolfsfrau" von Clarissia Pinkola Estés